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Lomax
Vielschreiber

Beiträge: 68


New PostErstellt: 18.08.05, 12:51     Betreff: Re: Vor-Modern und Modern

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Ich sehe die "Stärke" einer "modernen" Fantasy eher in der Schwäche der "Mittelalter-
Fantasy": Letztere ist halt zunehmend degeneriert und zu einem Zerrbild verkommen,
wo immer unverhohlener Kitsch zelebriert wird und man nichts weiter tut, als moderne
Figuren mit ihren Problemen in eine Reißbrett-Romantik zu verschieben. Das muss
nicht so sein. Das war es nicht und ist es auch jetzt nicht in allen Büchern - nur
übertüncht die Masse an schlechten Büchern das mitunter.
Im Guten kann die rückwärtsgewandte Phantastik durchaus etwas leisten, nämlich
indem sie durch das Betonen des Fremden selbst wieder den Relativismus unseres
Wertekanons deutlich macht; oder indem sie Grundfragen und Grundprobleme des
Menschen am Modell herausarbeitet.

Die "moderne" Fantasy hat heute einen leichteren Stand, zumindest was die Produktion
gehaltvollerer Bücher angeht, zum einen, weil sich eben noch nicht alle Geier darauf
gestürzt haben; zum anderen auch, weil sie halt mit den gewünschten modernen
Figuren immer noch stimmigere Gesamtbilder erlaubt.

Insofern halte ich den von Molosovsky skizzierten Unterschied für zu kurz greifend, weil
der die Probleme vereinfacht. Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Beispiel
zwischen "Reformation" und "Katholizismus":

> darüber, wo man DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen
> Realität (die Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes),
> oder in der Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius,
> Gewissenes, der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen,
> siehe Konflikt Katholizismus und Reformation).

... denn auch dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach auf einen Widerstreit zwischen
den beiden Polen reduzieren. Denn zum einen betont die Reformation ja stärker die
Eigenverantwortlichkeit des Gewissens, während der Katholizismus durchaus auf
"äußere" Realität setzt. Auf der anderen Seite liegt im Kern dieses Konfliktes genau die
entgegengesetzte Einstellung: Während die Reformation sich letztlich auf die Bibel als
einziges Zeugnis Gottes beruft, also auf ein äußerlich greifbares, unwandelbares
Faktum, stützt sich der Katholizismus auf die Offenbarung Gottes in der lebenden
Kirche als höchster Autorität, also gerade auf die Wahrnehmung und das Innenleben
einer "Gemeinschaft der Gläubigen".

Also, auf verschiedenen Ebenen verlaufen die Standpunkte in dieser Frage durchaus
konträr auch zu eigenen Einstellung in anderer Hinsicht.

> Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen,
> und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten
> werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als
> Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern
> Fraktion nennen das schon mal Diktatur des Relativismus (O-Ton Papst
> Benedikt).

... denn da hat der "Relativismus" das Problem, dass er selbst nicht leugnen kann, aus
historischer Perspektive nur Ausdruck eines Zeitempfindens zu sein; letztlich also nicht
wirklich eine neue Sicht, die den alten, absoluten Wahrheitsmodellen diametral
gegenübersteht, sondern nur eine neue Mischung der allgemein menschlichen Fragen,
die neben den alten Modellen steht und durchaus durch einen Austausch und eine
Variation gewinnen kann. Sprich: moderne, kontextuelle Wertedeutungen können
durchaus deutlicher herausgearbeitet werden, wenn man sie beispielsweise in
"konservativer" Fantasy einbindet und auf die Probe stellt. Denn auch unsere Sicht, die
die alten Sichten jetzt prüft und abtut, wird irgendwann einmal geprüft und abgetan
werden; und noch ist nicht entschieden, aus welchem der zahllosen probierten Modelle
der Geschichte die "künftige" Sicht stärker schöpfen wird.
Die vornehmste Aufgabe einer literarischen Fantasy sollte es eigentlich sein, sich
einem solchen Wertekanon komplett zu entziehen und die Modelle frei darzustellen und
zu variieren, das Experiment zu wagen, zu dem keine andere Gattung in der Lage ist.
In welchem Umfeld das besser gelingt, hängt sicher sowohl von den Problemen ab,
die man darstellen will, wie auch vom literarischen Umfeld - das im Moment für
"Mittelalter-Fantasy" nicht eben viel versprechend ist.


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Endlich bin ich auch dabei: Lomax' Weblog lockt ins Lohmannsland - www.lohmannsland.de
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