Gibbs
Der grauhaarige Agent merkte nichts davon, dass Hollis neben ihm um ihre Beziehung trauerte. Er merkte auch nichts davon, dass sein Retter jede Stunde schlaftrunken neben das Sofa stolperte, um seine Vitalzeichen zu überprüfen. Er schlief tief und traumlos und erwachte erst, als die Morgensonne einen vorsichtigen Strahl durchs Fenster schickte. Sein Kopf dröhnte, und seine Zunge fühlte sich pelzig an. Vorsichtig öffnete er ein Auge und stellte fest, dass er sich in einem Zimmer befand, dass ihm völlig fremd war. Es roch ein bisschen wie in einem Krankenhaus, aber die Einrichtung verriet ihm, dass es eine Privatwohnung war. Auch der Rest seines Körpers schmerzte bei jeder Bewegung, und mit einer gewissen Verwirrung bemerkte Jethro, dass sein linker Fuß in einem Gipsverband steckte. Grübelnd richtete er sich langsam auf, gab diesen Versuch aber sofort wieder auf, als sämtliche Muskeln massiven Protest einlegten. Was um alles in der Welt war passiert?!
Erst als wenige Minuten später die Gestalt des Tierarztes neben ihm auftauchte, erinnerte er sich. An Ethan, an die Nacht im Flughafen und an Hollis. Und an die letzte Nacht. "Es wäre schön, endlich wieder daheim zu sein. Ja, du fehlst mir auch." Ihre Stimme klang noch immer geradezu höhnisch in seinen Ohren. Er hatte vor der Tür gestanden, sie hatten sich gestritten... allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was danach geschehen war - geschweige denn, wie er auf dieses Sofa gekommen war. Und noch viel weniger, warum Dr. Kody ihm im nächsten Moment eine schallende Ohrfeige verpasste.
"Was soll das?!" fragte Gibbs wütend und schoss hoch, sämtliche Schmerzen ignorierend. Seine Beine gehorchten ihm nicht, er schaffte es nur, sich aufzusetzen, doch für den Anfang musste es reichen. "Die war schon lange überfällig," knurrte der Tierarzt, unter dessen Augen tiefe Schatten lagen. "Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?!? Wenn Sie sich umbringen wollten, hätten Sie es nur zu sagen brauchen!!" Umbringen? Jethro verstand die Welt nicht mehr. Warum glaubte der Mann, er habe sich umbringen wollen? Und warum war er so wütend darüber, was ging ihn das an?! Er funkelte den schwarzhaarigen Mann wütend an. "Vielleicht erklären Sie mir erst mal, warum..." Weiter kam er nicht, sein Hals war so rauh, dass seine Stimme schlicht und ergreifend versagte. Wütend gestikulierte er in Zeichensprache weiter, auch wenn er ziemlich sicher war, dass der Tierarzt sie ohnehin nicht verstand.
Vielleicht war das auch besser so, denn auch dem Silberfuchs wurde ziemlich schnell klar, dass es ziemlich peinlich wirken musste, zu fragen, warum man auf einem fremden Sofa herumlag. Dr. Kody hingegen rastete unterdessen völlig aus. Eine derartige Standpauke hatte Jethro Gibbs lange nicht zu hören bekommen, und sein noch immer verschlafener Verstand rekonstruierte aus der Schimpftirade nur mühsam, was geschehen war. Offensichtlich hatte der Arzt ihn in der Küche auf dem Boden gefunden - und wie durch einen Nebel erinnerte sich der Agent, dass er sich am Schmerzmittel im Kühlschrank bedient hatte. "Ich... ich konnte nicht schlafen," erklärte er etwas kleinlaut, als Dr. Kody eine kurze Pause einlegte. "Nicht schlafen?!" echote der Veterinär. "Hören Sie, ich kann verstehen, wenn Sie Schmerzen haben, Mann, aber dann sagen Sie doch einfach Bescheid!! Das hier ist doch kein Selbstbedienungsladen, was denken Sie sich eigentlich?! Sie hätten sterben können!!" Jethros Verteidigung kam beinahe automatisch. "An einem bisschen Schmerzmittel?! Ich bitte Sie!" Dr. Kody atmete tief durch, um nicht auf der Stelle unter die Decke zu schießen. "Haben Sie eigentlich Augen im Kopf?!" fauchte er zurück. "Können Sie lesen?! Ansonsten lassen Sie besser einfach die Finger von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben!!" Der Blick des Agenten verriet ihm deutlich, dass er auch genauso gut mit einer Wand hätte reden können. "Das, was Sie als ein bisschen Schmerzmittel bezeichnen, war eine doppelte Dosis eines Beruhigungsmittels für Rinder. Vielleicht sollten Sie wenigstens auf die Aufschrift der Injektionen achten, wenn Sie schon meinen, sich selbt behandeln zu müssen!!" Nun blickte Jethro ihn verwirrt an. Hatte er etwa tatsächlich nicht nachgesehen?! Na klasse, da hatte er wohl noch Glück gehabt, dass er nicht die Tollwutimpfung erwischt hatte. Verlegen blickte er zu Boden.
Dr. Kody war mittlerweile die Luft ausgegangen. Im hinteren Teil der Wohnung klingelte plötzlich ein Telefon, und er stürzte aus dem Raum. Jethro erhob sich mühsam und stolperte in die Küche, wo er auf der Stelle erschöpft auf einen Stuhl fiel. Er fühlte sich wie zerschlagen und wollte nur noch nach Hause und in sein Bett. Weit weg von allen Ärzten, Frauen und dem Rest der Welt. Und warum war eigentlich das Küchenfenster kaputt? Hatte er das etwa auf dem Gewissen? Doch er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Im nächsten Moment kam ein dunkelhaariger Wirbelwind durch die Küchentür, Shania schoss auf ihn zu und kletterte glücklich auf seinen Schoß. Auch Hollis erschien in der Küchentür, doch der Agent wich ihrem Blick aus.
"So," erklang die entschiedene Stimme des Tierarztes hinter ihr. "Ich habe mit der Leitstelle telefoniert - die Straßen in die Stadt sind wieder einigermaßen passierbar. Für unseren Freund von gestern nacht ist ein Streifenwagen hierher unterwegs, für sie beide ein Krankenwagen, der sie ins nächste Hospital bringen wird.." Er blickte seine Besucher an. "Es tut mir leid, dass wir ihnen Ärger gemacht haben," gab der Agent zu - noch immer nicht sicher, ob die kaputte Scheibe auf sein Konto ging oder nicht. "Der NCIS wird sich mit ihnen in Verbindung setzen, wir kommen für die entstandenen Schäden auf." Dr. Kody warf ihm einen beinahe spöttischen Blick zu. "Sehen Sie lieber zu, dass Sie keine Schäden zurückbehalten," knurrte er leise. "Es wird noch eine Weile dauern, bis die Wagen hier sind," fuhr er in normaler Lautstärke fort. Er blickte Hollis und Shania an. "Bis dahin denke ich, dass wir die Zeit zum Frühstücken nutzen können." Erleichtert wollte Gibbs nach der Kaffeemaschine greifen, doch Dr. Kody hielt ihn unmissverständlich zurück. "SIE bekommen bestenfalls Tee. Zum einen können ihre Nieren im Moment definitiv keinen Kaffee brauchen. Nachdem sie über Nacht noch einen Haufen Sedierung abbauen durften, haben sie sich eine Pause redlich verdient. Zum anderen habe ich keine Ahnung, was meine Kollegen von der Humanmedizin noch mit ihnen vorhaben - sie sollten nicht vergessen, ich mag ihnen geholfen haben, aber ich bin immer noch Veterinär. Ich will nicht ausschließen, dass die ihren Bänderriss chirurgisch behandeln wollen. Auf jeden Fall wird es mit Sicherheit besser sein, wenn sie bis dahin nüchtern bleiben und stattdessen ihren Nieren etwas Gutes tun." Er stellte die Kanne auffordernd vor den Agenten auf den Tisch.
Jethro goss sich eine Tasse ein, trank aber nichts. Er schwieg, während der Tierarzt, Hollis und Shania frühstückten. Auch von ihnen sprach keiner mehr als das Nötigste. Nachdem ihn mehrere mahnende Blicke getroffen hatten, nippte Gibbs notgedrungen an seinem Tee, doch seine Gedanken waren weit fort. Er konzentrierte sich nach Kräften darauf, Hollis nicht anzublicken - er war zu enttäuscht. Und zu verwirrt, weil sein Verstand ihn so betrogen hatte. Es hatte sich so echt angefühlt, so herrlich glücklich... doch es war nur eine Illusion gewesen. Sie hatte längst einen Neuen und konnte es kaum erwarten, in Nicks Arme zurückzukehren. Und das tat einfach nur weh, mehr als alle physichen Verletzungen zusammen. Er hatte ihr vertraut, hatte seine Schutzschilde gesenkt - und prompt einen Volltreffer kassiert. Trotzig starrte er sie an. Warum? fragten seine Augen. Warum tust du mir das an? Womit habe ich das verdient? Los, sag es mir, Holly. Warum habe ich mich je auf dich eingelassen?