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BAS-LAG: Das China Miéville-Forum
Das Forum für Fans von China Miéville und seiner Romane
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Lomax
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Erstellt: 13.01.07, 21:03 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Zitat: Theophagos
"Komet" gilt ja neben "Perdido Street Station" als eines der New Weird Kernwerke ... Dennoch ein gutes Debüt von einer Autorin, von der ich mir noch einiges erhoffe. |
Auch "The Year of our War" von Stephanie Swainston hatte ich mal zur Begutachtung für Lübbe, wenn auch als Manuskript, bevor es in England erschienen war. Ich weiß also nicht, ob sich im Buch noch was geändert hat. Nach Theophagus Urteil füge ich jetzt auch mal den wertenden Teil meines Gutachtens als "Rezi" an. Für Zustimmung oder Widerspruch - der Roman hatte seine Stärken, aber mein Urteil fiel insgesamt nicht so gut aus. Gar nicht gut verglichen mit meinem Gutachten zu PSS ;-) ----------------------------------------------------------------- [...]Jant berichtet in der Ich-Form von den Geschehnissen. Obwohl also ein Junkie als Erzähler herangezogen wird, ist der Stil des Romans nicht eben einfach. Der Satzbau ist variabel, wenn auch weitestgehend eingängig. Viele Redewendungen jedoch, und Andeutungen vor allem in recht komplexen Passagen hemmen mitunter den Lesefluss. Die Figuren sind häufig durch ihre Sprache klar charakterisiert, was sicherlich ein Vorteil ist - mitunter aber auch nicht ausreicht, um bei langen Dialogen ohne Marker den Anschluss zu behalten.
Der Anfang des Romans erleichtert den Einstieg nicht: Eine Vielzahl von Personen ist nur unzureichend voneinander abgegrenzt, und ausführliche Beschreibungen verlieren sich in Einzelheiten, aus denen sich kein stimmiges Gesamtbild ergibt. Erst sehr spät erfährt der Leser, dass viele der handelnden Figuren keine Menschen sind; am Anfang erahnt man es nur, ohne sich allerdings ein Bild von den Figuren machen zu können. Ein Beispiel: In einem Abschnitt wird ausführlich auf eine Rüstung eingegangen, und dabei ist auch von Flügeln die Rede. Das hat mich an dieser Stelle sehr irritiert, denn die bewusste Person konnte gar nicht fliegen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Gehören die Flügel nur zur Rüstung? Hat der Mensch Flügel wie ein Engel, kann aber nicht fliegen? Erst sehr viel später erfährt man dann, dass die Awianer gar keine Menschen sind, sondern nur menschenähnliche Flügelwesen - wie genau sie allerdings aussehen, das kann man bis zum Schluss nur vermuten. Erschwert wird der Einstieg zusätzlich dadurch, dass viele Elemente auftauchen, die man gemeinhin in der Fantasy als Stilbruch empfindet: Jeans und bedruckte T-Shirts, Zeitungen und Straßenbahnen. Im Gegensatz zu Perdido Street allerdings fügen sich diese Details nicht in eine entsprechende Struktur ein, in eine alternative Welt, sondern sie bleiben Ausreißer, die bis zum Schluss wie Anachronismen wirken. Es ist schwer zu verstehen, wie die Völker dieser Welt modern genug sein können, um herauszufinden, dass die Insekten über Chemikalien kommunizieren - andererseits aber keine Bakterien kennen und annehmen, Krankheiten werden durch »Staub« übertragen. Die Autorin macht keine Anstalten, solche widersprüchlichen Elemente zu verbinden: Heroin und Kettenhemdromantik existieren einfach nebeneinander, ohne ein stimmiges Ganzes zu bilden. Im Verlauf des Buches wird man allerdings mit der Welt und den Figuren vertraut, und gerade auf letzterem Feld liegt eine der Stärken des Romans. Jant und auch einige der anderen Unsterblichen werden in ihren Eigenschaften und Besonderheiten liebevoll herausgearbeitet und offenbaren einige Tiefe: Lightning, der Bogenschütze und älteste Unsterbliche, lebt noch immer in der Vergangenheit und misst seine Umgebung an seiner Erinnerung an das »Goldene Zeitalter« seiner Jugend - vor 1500 Jahren! Der Seemann Shearwater Mist ist ein raubeiniger Rüpel - aber den Intrigen seiner Frau steht er hilflos und zunehmend verzweifelt gegenüber. Ata Dei wirkt lange Zeit wie das verschüchterte, geschlagene aber liebende »Weibchen« - und erst sehr spät erahnt man, wie langfristig ihre Planungen wirklich sind. Und wenn die Hauptfigur Jant sich an ihre Jugend erinnert, erfährt man manches über die Welt, was im Roman selbst zu kurz kommt. Grandios auch die Schlachtenszenen: Düster, blutig und verzweifelt. Die Kämpfe sind heroisierend dargestellt, blenden aber auch Schmerz, Leid und Verluste nicht aus und schaffen es durchaus, betroffen zu machen - wie auch das Scheitern mancher Figur das Mitgefühl des Lesers erweckt. Während das Buch also sowohl von den Figuren wie auch in Bezug auf Action auftrumpfen kann, wirken einige Elemente eher störend: Die Insekten zum Beispiel treiben durch ihre Taten die Handlung voran und richten als Masse größte Verheerungen an; die Autorin schafft es allerdings nicht, sie auch als Einzelindividuen bedrohlich wirken zu lassen. Vielmehr erinnern sie an einfache Riesenkäfer, plumpe und dumme Kreaturen - Gelegenheiten für Atmosphäre oder Horrorelement werden so verschenkt. Auch der Drogenkonsum der Hauptfigur verursacht bei mir ein gewisses »moralisches Unbehagen«: Auf der einen Seite wird zwar immer gesagt, wie sehr Jant unter seiner Sucht leidet, und er ist so glücklich, dass er am Ende clean ist. Gezeigt wird allerdings etwas ganz anderes: Wie die bewusstseinserweiternde Wirkung der Droge Jant in eine Welt führt, die kein anderer sehen kann, und wie er dort die Lösung für die Probleme der realen Welt findet.
»The Year of our War« ist ein komplexer Roman, der einiges zu bieten hat - allerdings dauert es eine ganze Weile, bis man die guten Seiten des Buches auch würdigen kann. Bei mir persönlich hat es 200 Seiten gedauert, bis ich das Buch spannend fand und nicht mehr beiseite legen konnte - in dieser zweiten Hälfte allerdings war es wirklich fesselnd und bewegend. Den Anfang jedoch fand ich katastrophal. Informationen, die man braucht, um die zahllosen Andeutungen und Details zu verstehen, werden erst sehr viel später nachgeliefert. Auf der einen Seite habe ich stets gehofft, dass Perdido Street ein neues Subgenre begründen kann und eine Form der Fantasy etabliert, die nicht mehr so fest irgendwelchen romantisierten historischen Epochen nachempfunden ist. Dieses herbeigesehnte Subgenre bedient ohne Zweifel auch der vorliegende Roman - mit der Umsetzung bin ich allerdings nicht zufrieden: Denn all die Modernismen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Protagonisten des Buches in Bewusstsein wie in Kriegsführung ungebrochen im Mittelalter beheimatet sind - und die soziale Glaubwürdigkeit, auf die ja gerade Mieville so großen Wert legt, bleibt gänzlich außen vor. Alles in allem möchte ich »The Year of our War« eher als klassische »Superhelden«-Geschichte charakterisieren, die ganz einfach in eine Fantasy-Welt verlegt und mit mievill'schen Versatzstücken angereichert wurde. Denn auf der Basis der üblichen Fantasystory gedeiht eine Konstellation, die insbesondere aus den derzeit so gerne verfilmten Marvel-Comics wohlbekannt ist: Die Unsterblichen sind Wesen, die aus der Masse der Sterblichen herausragen und von den normalen Menschen isoliert sind, die eine Spezialfähigkeit besitzen - die aber trotzdem ihre ganz normalen menschlichen Probleme mit sich herumtragen und nicht nur gegen die übermenschliche Bedrohung, sondern ganz einfach auch für ihren Platz in der Welt und unter ihresgleichen kämpfen. Das erinnert an X-Men oder Spiderman - ein durchaus erfolgreiches Strickmuster, das für meinen Geschmack in diesem Fall allerdings allzu hart mit den üblichen Genregrenzen kollidiert. Und tatsächlich kann ich mir den Plot verfilmt viel besser vorstellen als gedruckt: Denn wenn man das Setting und die Figuren, die Swainston am Anfang so schwerfällig beschreibt, ganz einfach sehen könnte, wären eigentlich die meisten Probleme des Romans behoben. Und so bin ich persönlich geneigt, »The Year of our War« folgendermaßen zu bewerten: Ein genialer Comic in Prosaform, der durch die Umsetzung im gewählten Medium erheblich an Wirkung verliert ...
____________________ Endlich bin ich auch dabei: Lomax' Weblog lockt ins Lohmannsland - www.lohmannsland.de
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Theophagos
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Erstellt: 14.01.07, 14:54 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Mit Lomax' beschreibenden Teil stimme ich weitgehend überein; die Zeichnung von Ata sehe ich allerdings anders: Schon im ersten Dialog mit Jant erzählt sie, dass sie Adler folgen wollte, Raa (der Feigling) aber dagegen war. Als sie trotzdem folgen wollte (Befehlsverweigerung), hat Raa sie geschlagen. Dann attackierte sie ihn mit dem Dolch - sie wollte ihn abstechen. Als sie bemerkte, dass die Soldaten zusehen, hielt sie ein. Das ist meiner Ansicht nach eine Vorausdeutung auf einen Strang der Geschichte; sehr klar wird, dass Ata kein liebendes 'Weibchen' ist - wie sehr sie allerdings Opfer oder Täter ist, wird daraus nicht ersichtlich.
In der Wertung liege ich dann etwas anders. Beim schwierigen Einstieg stimme ich zu: Auch wenn ich relativ früh die Geschichte spannend fand, brauchte ich ewig um zweifelsfrei Harrier, Habicht, Wanderfalke, Bussard, Blitz, Aver-Falkonett, Sturmtaucher usw. zuordnen zu können. Warum Harrier nicht übersetzt wurde ist mir auch ein Rätsel.
Die z.T. nur sehr vagen Beschreibungen stießen mir beim Lesen zwar nicht auf, doch wenn man versucht einzelne Figuren zu visualisieren, stellt man fest wie wenig vorgaben es überhaupt gibt: Genja ist dünn, hat Flügel und Katzenaugen. Und kleine, flache, spitze Titten. So sieht nun eine Rhydannerin aus, die angestarrt wird. (Na gut, flache und gleichzeitig spitze Brüste würden mich wohl auch starren lassen...)
Lomax nennt es Stilbruch, bzw. Anachronismus, ich nenne es Pistol-Effect (nach Akira Kurosawas "Yojimbo"; dort zog ein Bösewicht einen Revolver - damit wurde die Perspektive radikal gebrochen: Man sah nicht eine handvoll Samurai im japanischen Mittelalter, sondern Samurai in der japanischen Moderne.): Ich denke, viele werden sich daran stören; ich finde sie letztlich auch nur halbgelungen, da sie Selbstzweck zu sein scheinen. Als Anachronismen habe ich sie allerdings nicht empfunden: Drogen und Kettenhemd geht prima - "Assassin" muss ich wohl nicht herleiten - die Sprize fand ich allerdings auch eigenartig: Es scheint, als würden Spritzen nur für den Drogenkonsum benötigt werden.
Nochmal die Insekten: Dass daraus keine Individuen wurden fand ich völlig ok - es ist eben ein Schwarm, eine Plage, die über das Land herfällt. Dass sie so unbegreiflich sind, nimmt ihnen den Mantel des Evil-Overlord-Invasoren - irgendjemand hatte sie mit Aliens verglichen, das trifft den Kern. Eigenartig ist aber, dass dem Leser so wenig von den Insekten vorgestellt wurde - es wurde erwähnt, dass man forschen würde, aber jenseits der Schlachten - und dort wurden sie in lovecraftscher Manier nur in zusammenhangslosen Details beschrieben - erfährt man so gut wie nichts von ihnen.
Drogenkonsum wurde verharmlost - allerdings nicht durch die Benennung positiver Seiten, sondern durch den leichten Entzug: Jant hat grosse Schmerzen es geht ihm schlecht er braucht nen Schuss oh solche schmerzen jetztnenschuss - Ohnmacht. Er erwacht drei Tage später und ist clean! Nope, das ist viel zu einfach.
Meine Hauptkritik geht in eine andere Richtung: Ich meine es werden zu viele Stränge verknüpft - ohne, dass sie inhaltlich zwangsläufig zusammenlaufen. Es sind halt Zufälle, die dazu führen, dass die Geschichte so verläuft. Da ist der Anderort-Strang: Eine hübsche Kurzgeschichte. Die Intrigen der Unsterblichen: Roman-Stoff. Und der Unsterbliche Jant, samt Felicita, Nachtigall und Genja: Ein halber Roman. Die Inskten-Invason: Noch ein halber Roman. Ich glaube zwei Stränge hätten gereicht, so wird es zwar komplexer, aber nicht komplizierter.
Trotz all der Kritik halte ich es dennoch für gute Unterhaltung. Sicher, weit entfernt von Miévilles PPS, aber wer sich befremden lassen will, wird hier seinen Spaß haben.
Insgesamt also eine halbe Zustimmung zu Lomax' Wertung.
Theophagos
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Lomax
Vielschreiber
Beiträge: 68
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Erstellt: 14.01.07, 15:14 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Zitat: Theophagos
Lomax nennt es Stilbruch, bzw. Anachronismus, ich nenne es Pistol-Effect (nach Akira Kurosawas "Yojimbo"; dort zog ein Bösewicht einen Revolver - damit wurde die Perspektive radikal gebrochen: Man sah nicht eine handvoll Samurai im japanischen Mittelalter, sondern Samurai in der japanischen Moderne. |
Aber in dem Falle verwies der "Revolver" auch auf einen weiteren Sinnzusammenhang, der in dem Film eine Rolle spielte - oder zumindest in dem Bezugsrahmen, der den Hintergrund dazu darstellte. Es war nicht einfach nur schmückendes Element, ohne Herkunft, ohne Folgen, ohne Hintergrund. Und genau das meine ich mit Anachronismus: Dass nämlich eine Sache, die eigentlich nur die Spitze eines Eisberges ist, die nicht aus dem Nichts heraus entstehen kann, sondern für ihre Existenz eine Vorgeschichte und ein ganzes Konglomerat an kulturellen und technischen Vorbedingungen erfordert, einfach nur als Einzelelement auftaucht. Eine Spitze also, die ohne Eisberg oben schwimmt. Und genau in dieser Form tauchten meines Empfindens die Modernismen in diesem Roman auf. Sie waren nicht in die dargestellte Welt eingebettet und daraus hergeleitet, wie bei Mieville. Und sie verwiesen auch nicht auf etwas außerhalb der dargestellten Kultur, das Einfluss nimmt und sie in Frage stellt - waren also ein Fremdkörper, ohne dass das Fremde dazu existierte. Das hat m.E. nach schon einen qualitativ ganz anderen Charakter.
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Theophagos
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Erstellt: 14.01.07, 16:03 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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@ Lomax: Ich glaube, wir liegen gar nicht so weit auseinander in der Frage: Pistol-Effect oder Anachronismus. Beide Begriffe werten: Während Pistol-Effect eher aufwertend ist, ist Anachronismus deutlich abwertend. Anachronismen im eigentlichen Sinne sind die Stilbrüche meistens nicht: Jeans hätte man ohne Probleme im Mittelalter/früher Neuzeit herstellen können, wenn man Baumwolle gehabt hätte. Fahrräder sind technisch auch kein Problem und Muskel-betriebene Seilbahnen gab es. Man erwartet sie nur nicht. Mit der Spritze hast du natürlich ein Beispiel gewählt, wo ich nicht widersprechen kann. Der Pistol-Effect ist es aber auch nur so halb: Du hast darauf hingewiesen, dass diese Elemente bei Kurosawa/Miéville eingebunden werden, bei Swainston nicht - darauf wollte ich mit dem "Halbgelungen" hinaus: Bei Swainston scheinen sie Selbstzweck zu sein. Da ich das Bemühen um Befremdung jedoch schätze, bleibe ich beim positiven Pistol-Effect. Aber du hast recht: Im Vergleich mit "PPS" schneidet "Komet" (auch) in dieser Hinsicht schlechter ab. Das wollte ich mit "interessant" statt "gut" Kennzeichnen.
Theophagos
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Lomax
Vielschreiber
Beiträge: 68
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Erstellt: 14.01.07, 16:39 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Hm, das Thema an sich halte ich eigentlich für ausdiskutiert, aber die historischen Sachen will ich trotzdem nicht unkommentiert stehen lassen. Denn tatsächlich ist es selten so, dass manche Erfindungen "einfach so" auch früher hätten da sein können, wenn nur jemand daran gedacht hätte. Die meisten haben nämlich schon spezifische Anforderungen - und kommen auch genau dann auf, wenn sie möglich sind.
Zitat: Theophagos
Jeans hätte man ohne Probleme im Mittelalter/früher Neuzeit herstellen können, wenn man Baumwolle gehabt hätte. Fahrräder sind technisch auch kein Problem |
Web- und Spinnmaschinen sind die Voraussetzungen für die meisten modernen Tücher - und die Webmaschinen, die dafür erforderlich sind, sind mechanische Wunderwerke, für die im Mittelalter gleich mehrere Voraussetzungen fehlten. Mit mittelalterlichen Mitteln hätte man keinen "Jeansstoff" herstellen können, selbst wenn das Prinzip bekannt und das Material vorhanden gewesen wäre. Die Voraussetzung für das Fahrrad, wie wir es kennen, ist das Kugellager - und das stellt wiederum nicht nur Anforderungen an die Bearbeitung, sondern allein schon an die Qualität des Stahls. Erst im 19. Jahrhundert war man so weit, dass man die Bestandteile eines Fahrrads herstellen konnte, mit dem das Fahren auch Spaß macht - und das zu einem Preis, der auch ökonomisch Sinn ergibt.
Es hat schon seinen Grund, dass da Vinci beispielsweise viele bahnbrechende Konzepte theoretisch vorweggenommen hat, aber die Realisation erst viel später erfolgte. Viele Ideen sind älter, als man denkt - aber der materielle Hintergrund für ihre Umsetzung gleicht meist wirklich einem Eisberg. Und wie bei einem Eisberg übersieht man auch heute noch leicht den Unterbau, auf dem schon scheinbar banale Selbstverständlichkeiten aufbauen. Ich verliere daher schnell die Freude an Büchern, die einfach nur Elemente übernehmen, aber nicht die dafür notwendigen Strukturen. Aber das ist dann wohl auch wieder Geschmackssache.
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Theophagos
Dauerschreiber
Beiträge: 113
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Erstellt: 14.01.07, 17:40 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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- Einen dem Denim-ähnlichen Stoff gab es bereits im 17 Jh. (Serge de Nimes) in Frankreich. Es fehlte nur Baumwolle, sonst hätte man schon in der frühen Neuzeit in Europa Jeans-Stoff herstellen können.
- 1869 ging es auch ohne Kugellager. Zu diesem Entwicklungsschritt brauchte man das Zweirad von Drais. Das hätte man auch im Mittelalter hinbekommen. Sicher, damit fährt man richtig beschissen, aber es funktioniert.
Es braucht schon einiges an Unterbau, den Swainston nicht erwähnt - dem sie aber auch nicht widerspricht. Swainston nutzt eine technische Entwicklung, die sich von der realen unterscheidet, aber, soweit ich sehen kann, weitgehend ohne Widersprüche auskommt.
Theophagos
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Lomax
Vielschreiber
Beiträge: 68
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Erstellt: 14.01.07, 20:47 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Hallo Theophagos,
ich glaube, in der Frage kommen wir nicht mehr zueinander Denn lustigerweise waren genau diese Beispiele - Textilproduktion und das Fahrrad - auch die zwei Beispiele, mit denen während meines Studiums ein Dozent mal in einer Vorlesung zur "industriellen Revolution" eingestiegen ist und die er daher besonders ausführlich betrachtet hat. Textilien deshalb, weil man nur abschätzen kann, wie "revolutionär" diese Revolution war, wenn man weiß, was vorher alles nicht ging; und das Fahrrad deshalb, weil es scheinbar so trivial ist, dass man sich fragt, warum die Römer nicht schon damit herumgefahren sind.
Zitat: Theophagos
1. Einen dem Denim-ähnlichen Stoff gab es bereits im 17 Jh. (Serge de Nimes) in Frankreich. Es fehlte nur Baumwolle, sonst hätte man schon in der frühen Neuzeit in Europa Jeans-Stoff herstellen können. |
Baumwolle fehlte eigentlich nicht, sie musste nur teuer importiert werden. Das war im Mittelalter zugeben durch kulturelle Differenzen schwerer als in der Antike, wo Baumwolle durchaus verbreiteter war. Aber ab dem Hochmittelalter hätte man es zumindest als "Luxusgut" einführen können - wenn es denn eine Anwendung hier gegeben hätte, die den Preis rechtfertigt. "Bluejeans" erfordern ferner geeignete Färbemittel - die gab es für Blau auch erst ab dem 18. Jahrhundert, mit dem Fortschritt der Chemie. Denn Blau lässt sich ohne eine entsprechend ausgefeilte Chemie nur sehr teuer gewinnen. Legt man auf die Farbe weniger wert, denkt man bei "Jeans" doch zumindest an Haltbarkeit - aber genau da hatten die Textilien in Handfertigung ihre Probleme. Insbesondere die Resistenz gegen Waschvorgänge war in keinster Weise mit heutiger Kleidung zu vergleichen - schon weil das handgesponnene Garn sehr darunter gelitten hat. Noch mehr, wenn mit warmem Wasser gewaschen wurde. Wenn es denn Möglichkeiten gab, das auszugleichen, so stieg damit gleich überproportional auch der Aufwand der Fertigung - was eine Jeans in der Form, wie wir sie heute kennen, auf jeden Fall unterbunden hätte.
Zitat: Theophagos
2. 1869 ging es auch ohne Kugellager. Zu diesem Entwicklungsschritt brauchte man das Zweirad von Drais. Das hätte man auch im Mittelalter hinbekommen. Sicher, damit fährt man richtig beschissen, aber es funktioniert. |
Kaum etwas wird so sehr überschätzt, wie das Zweirad von Drais. Entwürfe für ähnliche Gefährte gab es in der Geschichte schon häufig - entwickelt von irgendwelchen Spinnern, die sich aber nicht durchsetzten, weil sie unter den gegebenen Bedingungen keinen Vorteil boten. Wie du schon sagtest: Sie fuhren sich richtig beschissen. Außerdem fuhren sie auf dem zu erwartenden Untergrund und mit den verfügbaren Materialien nicht sehr lange. Drais war mit seinem Entwurf nur zeitlich nahe genug an der Änderung dieser Rahmenbedingungen - deshalb geriet seine an sich belanglose und schon mehrfach aufgekommene Idee diesmal nicht in Vergessenheit, sondern wurde praxistauglich gemacht. Das wäre im Mittelalter oder der frühen Neuzeit nicht möglich gewesen.
Ich denke mal, dem Dozent der damaligen Vorlesung war als Wirtschaftswissenschaftler ziemlich egal, ob einzelne, verschrobene Figuren irgendwann schon mal fahrradähliche Konstrukte erdacht haben. Und vermutlich hat es ihn auch nicht gekümmert, ob irgendwann früher schon mal ein jeansähnlicher Stoff hergestellt werden konnte. Und für meine Betrachtung spielt das auch keine Rolle. Wichtig ist, ob das geschilderte Element in der dargestellten Rolle in der entsprechenden Gesellschaft existieren kann. Zu einem Fahrrad gehört also mehr als eine Idee und ein Modell zu dieser Idee, mit dem man aber leider schlecht fahren kann. Unter einem Fahrrad verstehe ich ein funktionsfähiges Fortbewegungsmittel, das auch tatsächlich hergestellt wird, weil der Wert dieses Produktes eine Herstellung rentabel werden lässt. Und zu einer "Jeans" gehört nicht nur die theoretische Möglichkeit, einen jeansähnlichen Stoff als Liebhaberartikel herzustellen. Ich würde sagen, eine Jeans ist dann denkbar, wenn sich eine Textilie mit den archetypischen Eigenschaften einer Jeans herstellen lässt, und das mit einem Aufwand, den die potenziellen Kunden des Stoffes auch zu bezahlen bereit sind. Denn nur dann wird es in einer Gesellschaft auch tatsächlich "Jeans" geben. Würde also in einem Setting wie dem von Swainston ein verrückter Erfinder gezeigt, der ständig an seinem ewig kaputtgehendem Laufrad schraubt, würde ich nicht von einem Anachronismus reden. Aber Swainston zeigt eben beständig Objekte in ihrem Buch, die verfügbar und offenbar als "normal" in die dargestellte Kultur integriert sind, ohne dass die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Und sie erschafft damit Widersprüche, die nicht ohne Konflikt nebeneinander existieren können - ohne dass diese Konflikte dann irgendeine Rolle spielen würden.
Womit sie diese Elemente dann in so ziemlich gegenteiliger Weise einbringt wie Mieville.
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Theophagos
Dauerschreiber
Beiträge: 113
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Erstellt: 14.01.07, 22:54 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Hmm, hmm, hmm, jetzt hatte ich (kurz, weil ich glaubte, wir würden uns gegenseitig nicht überzeugen können) eine lange Replik verfasst, darüber hinaus verdödelt, dass ich bei ebay für den Locus 550 mitbieten wollte, und komme zu dem Schluss: Mit den Jeans könntest du recht haben (beim Fahrrad bleibe ich renitent). Verdammt. Nun sehe ich immer noch keinen zwingenden Widerspruch, aber immerhin zwei Punkte, die hakelig sind - das reicht, damit ich mich dir in dieser Hinsicht - nicht mit soviel Leidenschaft, wie bei dir dahinter zu stecken scheint - zögerlich anschließe. Kurzum: Swainston bettet die Brüche nicht ausreichend ein, so dass der berechtigte Verdacht aufkommt, sie seinen anachronistisch.
Theophagos
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Lomax
Vielschreiber
Beiträge: 68
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Erstellt: 14.01.07, 23:53 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Hallo Theophagos,
Zitat: Theophagos
nicht mit soviel Leidenschaft, wie bei dir dahinter zu stecken scheint |
tut mir leid, aber Neubekehrte sind ja bekanntlich die größten Eiferer Aber die Wortwahl mit dem "Fahrrad in der Römerzeit" stammt weder aus besagter Vorlesung, noch war es eine zufällig gewählte Formulierung, sondern eine Frage, die ich schon meinem Geschichtslehrer in der Schule gestellt habe. Ich habe mich nämlich schon als Kind gewundert, warum etwas so simples wie ein Fahrrad nicht schon von den Römern erfunden wurde, und mehr als zehn Jahre lang konnte mir niemand diese Frage beantworten. Als diese Frage dann ungestellt bei dieser Vorlesung abgehandelt wurde, war das für mich durchaus mit einem religiösen Erweckungserlebnis zu vergleichen Ich entschuldige mich für meinen Fanatismus ... wenn das jetzt nicht schon ein Widerspruch in sich ist. Und ich kann dir noch versichern, dass meine Leidenschaft eher der Historie gilt als der Frage, ob nun jeder diesen Mangel im Buch genauso sehen muss wie ich. Und deshalb möchte ich dich auch keinesfalls hierzu bekehren. Diese meine Einschätzung des Buches liegt sicher auch in meiner Weltsicht begründet, die Abhängigkeiten und Zusammenhängen zwischen Dingen mehr Wert beimisst als den Dingen selbst. Nichts existiert für sich, sondern alles ist mit anderen Elementen verbunden, und so kann ich eine Geschichte also nicht richtig genießen, wenn gewisse Bestandteile nicht eingebunden wirken. Und mit eingebunden meine ich ganz klar nicht die Story und nicht die Dramaturgie - denn da sind diese Elemente auch bei Swainston durchaus eingebunden -, sondern nur den Hintergrund. Ich schätze Tolkien, weil sein Hintergrund perfekt komponiert ist; und Mieville arbeitet mit dem Hintergrund selbst. Für viele andere Leser ist der Hintergrund nur Beiwerk, und meine Kritik daran dementsprechend eine Nebensächlichkeit. Ich wollte nur darauf zeigen, dass Swainston da eine Lücke hat und in dieser Hinsicht nicht mithalten kann. Die Leser, die dieselben Prioritäten haben wie ich, werden es einordnen können. Und wer sich nicht daran stört, hat auch nichts davon, wenn er sich "anschließt" und sich einen Mangel einreden lässt. Sorry also, wenn du dich da genötigt fühltest.
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Theophagos
Dauerschreiber
Beiträge: 113
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Erstellt: 15.01.07, 11:05 Betreff: Re: SUBs...oder was lest Ihr derzeit?
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Hallo Lomax, ich fange mal mit dem (mir) Wichtigsten an: Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin in mancherlei Hinsicht ein popeliger kleiner Humanist und glaube an die Kraft von Argumenten. Ich kriege jedesmal die Krätze, wenn jemand auf Hinterwäldler-Argumenten beharrt - zwar ist niemand gefeit davor (zumal es immer eine Frage der Perspektive ist), aber wenn jemand die besseren Argumente hat, sollte man seine Ansichten zumindest intensiv überdenken. Soweit meine Einstellung zu Argumenten.
Was folgt (für mich) daraus: An dieser Stelle unterscheiden wir uns wieder. Nun bewerte ich den Hintergrund nicht per se nachrangig, aber da die meisten Autoren diesen nur als Ambiente nutzten, ergibt es sich so, dass es sehr häufig darauf hinaus läuft. Ich schaue bei meiner Wertung auf die Konsequenzen: Was folgt aus der Existenz der umstrittenen Jeans? Zunächst dachte ich, es sei nur ein Bruch um den Leser vor den Kopf zu stoßen; das scheint mir auch noch im Vordergrund zu stehen. Nach längerem Nachdenken - und deshalb folge ich dir - glaube ich, dass es auch Jant als jugendlichen Rebellen charakterisieren soll: moderner Komet vs antiquierter Blitz. Das ist mehr als bloßer Selbstzweck, aber nur ein Mosaikstein im Bild, daher halte ich es zwar für einen Fehler, jedoch keinen, der mich groß stört. (Siehe dazu mein Meckern im "The Scar" - Was bleibt von der Armada-Thread: Wenn Silas eine belanglose Nebenfigur wäre, die nur zur Erniedrigung des One-Night-Stands herhalten sollte, hätte mich es nur wenig gestört; da Silas Verhalten aber zentral für die Entwicklung der Geschichte ist, werte ich es auch als zentralen Fehler.) Zögerlich bleibe ich, da man den Jeans-Widerspruch immer noch weg argumentieren kann, aber dafür muss man schon eine Reihe von Annahmen machen - ich halte deine Auslegung nicht für zwingend, aber für wahrscheinlich.
Dass neben Materialien und technischem Know-How auch noch ein Bedarf wichtig ist, damit ein Produkt in Umlauf gerät ist klar; hier wird die Haltung der Bevölkerung dann sehr wichtig: Die Römer z.B. waren sehr konservativ, damit sie eine Neuerung einführen, muss diese schon große Probleme lösen. Ein Fahrrad ist zunächst einmal ein Pferde-Ersatz für Städter - und die traditionellen Römer (und wer an gesellschaftlichen Ansehen interessiert war, war besser auf Tradition bedacht) hielten sich für Bauern (oder Gutsherren); schließlich misstrauten sie dem Reiten immer ein wenig: Im Krisenfall ersetzte das Konsuln-Paar ein Diktator - und an zweiter Stelle der Reiter-General. Obwohl die Adligen die Reiterei stellten, waren es immer die Schwerbewaffneten, die den Sieg errungen und auch die römische Macht symbolisierten. Es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum die Römer keinen Bedarf an Fahrrädern hatten. (Der einzige - soweit mir bekannt - der in der Antike die Reiterei ernsthaft einsetzte, war Alexander der Große; die Römer nutzten die Reiterei eher als Plänkler.) Darum bin ich bei Swainston so zögerlich: Weil ich weder handfeste Hinweise für noch gegen einen Bedarf sehe. Aber, dank deines eifrigen Beharrens, nicht-handfeste Hinweise gegen zumindest zwei Brüche.
Theophagos
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