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Die Demokratie als eine coincidentia oppositorum
VON PROF. DR. HEINZ LAUFER
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Das moderne demokratische System ist seinen geistigen und politisch-historischen Ursprüngen nach nicht das Ergebnis eines einzigen theoretischen Entwurfs oder eines singulären Ereignisses. Ideen von Plato und Aristoteles, Polybius und Cicero, Thomas von Aquin, John Locke und Thomas Hobbes, Jean Jaques Rosseau und Montesquieu, Harrington, Hamilton und Jefferson, Kant, Hegel, Marx – um nur die hervorragendsten zu nennen – haben sie ebenso geprägt, wie Aussagen jüdischer Propheten und christlicher Theologen.
Die römische Rechtsordnung, die Magna Charta Libertatum des englischen Königs Johann ohne Land, die glorreiche Revolution in England, die Hinrichtung Ludwig XVI. in Frankreich, die Bostoner Tea-Party in Amerika, die Befreiungskriege in Deutschland, der I. Weltkrieg, die Münchener Räte-Republik, die Zerstörung des Nationalsozialismus, der Kampf gegen den kommunistischen Imperialismus haben mit das moderne freiheitliche demokratische System bestimmt. Wen wird es erstaunen, daß die Mannigfaltigkeit politischer Ideen und die Verschiedenheit politischer Ereignisse ein widerspruchsvolles Gebilde als Ergebnis haben?
Auf eine Tatsache ist vor allem noch hinzuweisen, nämlich daß die demokratische Ordnung ein politisches System von Menschen, durch Menschen und für Menschen ist. Doch der Mensch ist sowohl als Spezies wie als konkret existierendes Individuum in sich ein widersprüchliches Lebewesen und voller Gegensätze. Denn er steht in der Spannung zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Geist und Trieb, zwischen Einzelexistenz und Sozialexistenz. So ist zu fragen, ob ein politischer Systemtypus, der den Menschen ernst nimmt und der sich an dessen Natur zu orientieren sucht, nicht ein System der Gegensätzlichkeiten sein muß?
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DIE WIDERSPRÜCHE IN DER DEMOKRATIE
Die Widersprüche des freiheitlichen demokratischen Systems können von zwei Seiten her analysiert werden. Einmal von einem allgemein-prinzipiellen und zum anderen von einem spezifisch-konkreten Ansatz her. Erst beide Aspekte zusammen lassen widersprüchliche und gegensätzliche Dimensionen des demokratischen Systems erkennen. Wir werden uns aus Zeitgründen jedoch vor allem mit der prinzipiellen Problematik befassen.
Von den zahlreichen prinzipiellen und damit systemimmanenten Widersprüchen des politischen Systems sollen nachfolgend diejenigen herausgearbeitet werden, die von essentieller Bedeutung für dieses System sind. Dabei handelt es sich um Gegensätze von
• Individual- und Sozialexistenz
• Freiheit und Gleichheit
• Freiheit und Selbsterhaltung
• Wahrheit und Relativität
• Freiheit und staatlichem Machtanspruch
• Effizienz und Ineffizienz
• direkter und repräsentativer Demokratie
• Menschenwürde und politischer Korruption.
DER GEGENSATZ VON INDIVIDUAL- UND SOZIALEXISTENZ
Der Mensch – und zwar in seiner individuellen konkreten Existenz und nicht in einer vagen unpersönlichen Menschlichkeit – ist im freiheitlichen demokratischen System das höchste Gut und der maßgebende Bezugspunkt für politisches Handeln. Dennoch ist es auch in diesem Systemtypus ausgeschlossen, daß die Bürger in absoluter Freiheit und totaler Unabhängigkeit, bindungslos und autonom ihre Individualexistenz pflegen, denn das würde das allen politischen Systemen – gleich welcher Art – zugrunde liegende Spannungsverhältnis von Einzelnem und staatlicher Gemeinschaft zugunsten des Individuums auflösen. Eine solche Auflösung würde mit Sicherheit auch das Ende der Demokratie zur Folge haben.
Die demokratische Ordnung versucht vielmehr, das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit den Formen des Rechtsstaates und den Institutionen der Grundrechte aufrechtzuerhalten. Dem einzelnen Menschen sichert sie einen unantastbaren Bereich personaler Existenz, gleichzeitig wird er aber von der politischen Gemeinschaft in Pflicht genommen, so daß seine persönliche Sphäre begrenzt ist, er wird mit Leistungen und staatlichen Ansprüchen belastet, er muß Einbußen erleiden und sich Eingriffe, zum Beispiel in die Freiheit der Ausbildung und Berufsausübung oder in sein Eigentum und Vermögen gefallen lassen. Solche Beschränkungen, Eingriffe und Belastungen sind den einen zu viel, den anderen zu wenig. Doch einen allen Bürgern befriedigenden Spannungsausgleich wird es kaum geben. Der in der Gegensätzlichkeit von Individualexistenz und Sozialexistenz bestehenden Widerspruch kann nicht gelöst werden, ohne die demokratische Ordnung selbst aufzulösen. Es ist diesen politischen Ordnungstypus konstituierendes Essential.
DAS SPANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN FREIHEIT UND GLEICHHEIT
Auch für den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit muß dasselbe gesagt werden. Beides sind konstituierende Prinzipien des demokratischen Systems. Doch sie stehen nicht in einem ausgeglichenen, sich gegenseitig ergänzenden harmonischen Verhältnis zueinander, sondern in einem Gegensatz, den man kurz auf die Formel bringen kann: je mehr Freiheit um so weniger Gleichheit, je mehr Gleichheit – und soziale Sicherheit – um so weniger Freiheit. Versucht man jeweils ein Prinzip zu radikalisieren, so wird damit eine Verwirklichung des jeweils anderen Prinzips ausgeschlossen. In einer radikal egalisierten Demokratie ist freiheitliche Existenz, persönliche Entfaltung und individuelle Lebensgestaltung nicht mehr möglich, Gleichschaltung und Kollektivierung sind die Folge. In einer individualistisch-liberalistischen Demokratie werden Privilegien und Benachteiligungen und damit Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit vorherrschen.
Im demokratischen System ist mit Erfolg der Versuch unternommen worden, Freiheit, Individualität und personale Existenz mit Gleichheit, Chancengerechtigkeit und sozialer Sicherheit zu verbinden. Doch der Versuch kann immer nur prinzipiell als erfolgreich bezeichnet werden und darf den der Demokratie immanenten Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit nicht vergessen lassen. Denn dieser Widerspruch bewirkt in der konkreten Politik des demokratischen Alltags nicht selten Unfreiheit für manche und Ungleichheit für viele. Nur ständiges Bemühen der Bürger und Amtsträger um Ausgleich und Überbrückung lassen zu, daß der Widerspruch akzeptiert, ertragen und verteidigt werden kann.
DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN FREIHEIT UND SELBSTERHALTUNG
Ein Ausgleich im oben genannten Sinne ist nicht möglich bei einem anderen Gegensatz, nämlich dem zwischen politischer Freiheit der Bürger und der Selbsterhaltung des demokratischen Systems.
Aus dem die Demokratie konstituierenden Freiheitsprinzip folgen für den einzelnen und für soziale Gruppierungen eine Vielzahl von Freiheitsgarantien, so vor allem das Recht der Meinungsäußerungsfreiheit, der Freiheit von Wissenschaft und Kunst, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit, der Freiheit der politischen Betätigung für einzelne, soziale Gruppen und besonders für politische Parteien. Die politische Freiheit konsequent realisiert müßte zur Folge haben, daß in der freiheitlichen Demokratie jede politische Aktivität mit jedweder Intention gewährleistet ist. Demzufolge müßte die politische Freiheit auch für Meinungen und Aktionen garantiert sein, deren Ziel es ist, das demokratische System zu bekämpfen, die freiheitliche Ordnung zu beseitigen, ein nichtdemokratisches System etwa kommunistischer oder faschistischer Prägung zu errichten. Doch keine moderne Demokratie läßt das zu.
In alles (n) westlichen Demokratien sind der politischen Betätigung des einzelnen, der sozialen Gruppen und der Parteien Grenzen gezogen, wenn es um die Selbsterhaltung des Systems geht. So sind zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland Grundrechtsverwirkung, Vereinsauflösung, Parteiverbot Instrumente, durch die bei Gefährdung der freiheitlichen Demokratie die politische Freiheit beschränkt, oder gar aufgehoben werden kann. Das ist unter dem Aspekt der Logik ein Widerspruch zum Freiheitsprinzip und für viele, vor allem für junge Menschen stellt dieser Widerspruch eine Absurdität der Demokratie dar. Doch die demokratische Verfassung ist kein Selbstmordvertrag, die freiheitliche Demokratie hat streitbaren Charakter und das demokratische System muß diesen Widerspruch aushalten, will es sich nicht selbst aufgeben.
DER GEGENSATZ VON WAHRHEIT UND RELATIVITÄT
Auch mit dem Gegensatz von Wahrheit und Relativität muß die freiheitliche Demokratie leben. Er ergibt sich aus der dem Menschen eigentümlichen Sehnsucht nach unverrückbaren, dauerhaften, wahren Bezugspunkten, an denen er sein Handeln und Verhalten orientieren kann. Die politische Doktrin totalitärer und autoritärer Systeme, wie der Marxismus-Leninismus oder der Nationalsozialismus benutzen diese Sehnsucht, indem sie für sich absolute Richtigkeit und unanfechtbare Wahrheit beanspruchen. In solchen politischen Systemen sind die Entscheidungen der Herrschenden unangreifbare Heilswahrheiten, ohne Fehl, von absolutem Wahrheitscharakter, sie anzuzweifeln ist verboten.
Nicht wenige Menschen im demokratischen System sehen in solcher Gewißheit und Sicherheit einen Vorzug und erwarten auch für ihren politischen Bereich Wahrheit und absolute Richtigkeit. Doch die freiheitliche Demokratie muß sie enttäuschen, denn zu ihren unausgesprochenen Grundlagen gehört die Anerkennung, daß es in der Politik keine absoluten Wahrheiten, keine unumstößlichen Gewißheiten geben kann. Regierungen und Parlamente, Behörden und Gerichte können ebenso irren wie Parteien und Wählermehrheiten, Journalisten und Bürgerinitiativen. Wer mit dem Anspruch auftritt, allein die richtige politische Entscheidung über das Gemeinwohl treffen zu können, ist töricht oder zynisch oder von besonderer Raffinesse im Stimmenfang.
Der Prozeß der politischen Entscheidung ist in der Demokratie ein Weg des Probierens und Irrens, ein Prozeß der Auseinandersetzung, des ständigen Hickhacks, des Nehmens und Gebens, des ständigen Kompromiß-Schließens. Das Ergebnis kann aber stets nur ein Relativ-Richtiges, ein Immer-Nur-Vorläufiges sein. Ein für allemal gültige Entscheidungen gibt es im demokratischen System nicht.
Steht aber diese Relativität nicht im Widerspruch zu den essentiellen Bestandteilen der Demokratie, wie zum Beispiel den Inhalten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung? Ohne Zweifel ist das der Fall. Die eben gezeigte Relativität hat ihre Grenze an den unabdingbaren konstituierenden Prinzipien des demokratischen Systems wie:
• Selbstbestimmung des Volkes
• Menschenwürde und Heiligkeit des Lebens
• Freiheit und Eigentum
• Gleichheit und soziale Solidarität
• Rechtsstaatlichkeit
• Beschränkung, Verantwortung und Kontrolle der Macht
Zwar gibt es auch für diese Grundsätze keine absolut richtige unbezweifelbare wissenschaftliche Beweisführung, sondern nur einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Dennoch sind diese Essentiale des demokratischen Systems um seiner Stabilität und Selbsterhaltung willen jenseits der Relativität. Ebenfalls ein Widerspruch – jedoch unumgänglich.
DIE GEGENSÄTZLICHKEIT VON FREIHEIT UND STAATLICHEM MACHTANSPRUCH
Auch der Widerspruch zwischen staatlicher Machtausübung und freiheitlicher Friedhaftigkeit ist unumgänglich. Das demokratische System ist auf Grund seines rationalen Menschenbildes auf Diskussion, Interessenausgleich, rationale Mehrheitsentscheidung und Selbstbindung angelegt. Nicht wenige folgern daraus, daß es in einer Demokratie staatliche Gewalt verschwinden müsse, der Einsatz juristischer Zwangsmittel oder gar die Anwendung physischer Gewalt sei demokratiefremd. Aus solchen Vorstellungen resultiert – gerade in jüngster Zeit – Empörung und Diffamierung, wenn immer demokratische Amtsträger Gewaltmaßnahmen ergreifen, um Existenz und Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu schützen und aufrechtzuerhalten.
Anzunehmen, die freiheitliche Demokratie sei eine für vernünftige friedliebende Menschen konzipierte Immer-Schönwetter-Herschaftsform, wäre jedoch ein Mißverständnis. Auch in einer Demokratie gibt es unvernünftige, streitsüchtige, nach Zerstörung trachtende Menschen, die die Funktionsfähigkeit bedrohen. Aber die staatliche Selbsterhaltung darf auch in einem demokratischen Staat nicht vernachlässigt werden. Doch das setzt staatliche Gewalt und – wenn erforderlich – ihre wirksame Ausübung voraus. Um die Gegensätzlichkeit von Freiheit und Staatsgewalt, Frieden und Machtausübung kommt auch das demokratische System nicht herum.
DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN EFFIZIENZ UND INEFFIZIENZ DES REGIERENS
Ein Gegensatz besteht auch zwischen dem Prozeß der demokratischen Entscheidungsfindung und der Effizienz des Regierens. Es ist zu fragen, ob im demokratischen Staat der Gegenwart, dem Staat des Industriezeitalters, dem Staat in der Abhängigkeit der internationalen Verflechtungen, dem Leistungs- und Daseinsvorsorgestaat, überhaupt noch effizient, das heißt:
• rasch
• einfach
• durchschaubar
• kostensparend
• wirkungsvoll
regiert werden kann. Muß nicht Regieren in der pluralistischen Parteiendemokratie dem Regieren in der Einparteien-Diktatur stets hoffnungslos unterlegen sein? Besteht nicht ein Widerspruch zwischen den Anforderungen an die Staatsfunktionen und den aus dem demokratischen Prinzip sich ergebenden Forderungen?
Niemand, der den Regierungsprozeß in den modernen Demokratien aufmerksam beobachtet, kann leugnen, daß demokratisches Regieren oft langsam und schwerfällig, mühsam und wenig wirksam ist. Denn die Regierung muß sich stets um eine Mehrheit im Parlament und – wenn vorhanden – in der Zweiten Kammer bemühen, sie darf ihre Partei nicht vor den Kopf stoßen, sie will nicht unpopulär werden und möchte Wahlniederlagen vermeiden. Ihre allgemeinen Konzeptionen und konkreten Vorhaben werden öffentlich diskutiert und kritisiert, die interessierten Betroffenen versuchen auf vielen Kanälen legitimen und illegitimen Einfluß in ihrem jeweiligen, häufig konträren Sinne zu nehmen; bestimmte Gruppen üben sogar teilweise empfindliche Pressionen aus; die Opposition sagt gelegentlich kompromißlosen Widerstand an. Hinzu treten sachliche Komplexität, zahlreiche Imponderabilien, vielseitige inner- und zwischenstaatliche Verflechtungen und meist nicht geringe Kosten. Reibungsverluste, zeitliche Verzögerungen, überzogene Kompromisse, Vergeudung von Steuermitteln, irreparable Schäden – man denke zum Beispiel nur an die Ineffizienz im Umweltschutz – sind nicht selten die Folgen.
Mögen Verbesserungen im einzelnen gelegentlich auch möglich sein, grundsätzlich dürfte sich an diesem Widerspruch kaum etwas ändern lassen. Die Bürger des demokratischen Systems müssen hinnehmen, daß sie nicht alles haben können: demokratische, das heißt offene, liberale, beeinflußbare Regierungstätigkeit und ein Optimum an Effizienz des Regierungshandelns.
DER GEGENSATZ ZWISCHEN DIREKTER UND REPRÄSENTATIVER DEMOKRATIE
Ein anderer grundsätzlicher Gegensatz ist der zwischen Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie. Nach einer Idee des demokratischen Systems besteht in diesem Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Regierenden und Regierten. Die Idee ist, daß das Volk sich selber regiert, indem es alle Probleme und Fragen in Gesamtheit artikuliert, diskutiert, entscheidet und die Entscheidung vollzieht. Doch die meisten geistigen Väter der Demokratie waren sich stets darüber im klaren, daß es unmöglich ist, dieses Ideal zu realisieren. Politische Systeme können nicht – besonders nicht unter den zivilisatorischen Bedingungen der Gegenwart – von –zig oder von Hunderten Millionen Menschen tatsächlich regiert werden. Eine Identität von Herrschenden und Beherrschten kann es nicht geben. Nur illusionäre Utopisten oder trickreiche Systemgegner reden den Menschen unserer Tage ein, man könne die Selbstherrschaft des Volkes verwirklichen, wenn man nur die kapitalistische Wirtschaftsstruktur beseitige.
Demgegenüber ist an der jahrhundertealten Erfahrung festzuhalten, daß demokratische Herrschaft nur in der Gestalt der repräsentativen Demokratie zu verwirklichen ist. Das bedeutet Übertragung der Herrschaftsbefugnis des Volkes auf Amtsträger von Institutionen, insbesondere des parlamentarischen Typus. Die von Amtsträgern ausgeübte Herrschaft hat folgende Kennzeichen: sie ist
• abgeleitet und nicht originär
• befristet
• anvertraut
• kontrolliert
• auf Konsens beruhend
• abberufbar.
Doch diese und andere Kriterien werden häufig mißachtet oder verletzt. Parlamentarier, Regierungsmitglieder, Richter und Beamte vergessen nicht selten ihre demokratischen Verpflichtungen gegenüber den Bürgern, amtieren selbstherrlich und wenig verantwortlich. Gelegentlich verfolgen sie mehr ihre eigenen Interessen oder die besonderen Interessen singulärer Gruppen oder Schichten, statt sich um die der vielen oder um gesellschaftlichen Ausgleich zu bemühen. Zuweilen vernachlässigen sie auch die Kontakte zum Wähler, der für sie dann nur in Wahlzeiten Adressat ihres Bemühens ist.
Der Bürger fühlt sich den Amtsträgern ausgeliefert, er empfindet sich als Manipulationsobjekt, er wird entfremdet, desinteressiert und aggressiv. Er muß feststellen, daß es keineswegs die Besten sind, die die politische Herrschaft für ihn und über ihn ausüben, sondern nicht selten Mittelmäßige, Karrieristen, Demagogen. Und er fragt sich: ist da nicht ein eklatanter Widerspruch zwischen der großartigen, verlockenden Idee der demokratischen Herrschaft und den abstoßenden Niederungen des demokratischen Alltags?
Auch dieser Widerspruch ist dem demokratischen System immanent und wird sich kaum jemals völlig aufheben lassen, wenngleich auch gerade er durch Erziehung und Selbstkorrektur gemindert werden könnte. In dem Widerspruch von Idee und Realität demokratischer Herrschaft wird die anthropologische Ursache besonders deutlich, es wird aber auch sichtbar, in welchen Maßen und in welchen Grenzen sich die Selbstherrschaft des Volkes nur realisieren läßt.
DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN MENSCHENWÜRDE UND POLITISCHER KORRUPTION
Von einem letzten Widerspruch soll noch gesprochen werden, von dem zwischen menschlicher Würde und politischer Verderbtheit. Auch dieser Widerspruch ist geeignet, nicht wenige an der Qualität und Attraktivität des demokratischen Systems zweifeln, ja gelegentlich verzweifeln zu lassen. In dem bisher Gesagten wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß der Mensch der maßgebende Bezugspunkt im politischen System der Demokratie ist. Dieser Ordnung liegt die Vorstellung eines auf Erkenntnisfähigkeit, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, kurzum auf Rationalität beruhenden Menschenbildes zugrunde. Der Verfassungsgesetzgeber für die Bundesrepublik Deutschland hat diese anthropologische Voraussetzung dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er die Verfassung mit der Bestimmung beginnen läßt:
• Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.
Doch die Menschen – sind nicht so, sie sind mindestens nicht nur so. Sie sind emotional und nicht nur rational; sie sind bequem, faul und nachlässig und nicht nur engagiert, fleißig und verantwortungsbewußt; sie sind destruktiv und nicht nur konstruktiv. Demzufolge gibt es auch im demokratischen System den Tatbestand der Korruption, hat ihn immer gegeben und wird ihn immer geben.
Nicht wenige Amtsträger gelangen über Partei und Fraktion in ihr Amt, indem sie mehr die negativen Seiten ihrer Mitmenschen ansprechen oder ausnutzen, wie Eitelkeit, Neid, Opportunität, als die positiven; indem sie intrigieren, verleumden und bestechen; indem sie statt an die Vernunft an die niedrigsten Instinkte der Menschen appellieren; indem sie Demagogie betreiben, statt sich um Aufklärung und Überzeugung zu bemühen. Zwischen Menschenwürde, Personalität und Rationalität einerseits und politischem Verhalten von Bürgern und Amtsträgern andererseits sind allenthalben Widersprüche festzustellen. Sie werden nicht zu beseitigen, sondern höchstens zu mindern sein.
DIE PERMANENZ KONKRETER WIDERSPRÜCHE UND AKUTER GEGENSÄTZE
Neben diesen grundsätzlichen, dem demokratischen System eigenen Widersprüchen stoßen wir in den konkreten Demokratien der Gegenwart auf eine Vielzahl von akuten Gegensätzen.
So widerspricht die Vorherrschaft und der Einfluß großer Interessengruppen wie der der Wirtschaftsunternehmen, der Gewerkschaften, der Publizistik, der Kirchen dem Grundsatz des gleichen Stimmengewichts und den Ideen des Gemeinwohls und des Interessenausgleichs; die vielfältige Gängelung durch staatliche Behörden aller Art, die zunehmende Reglementierung aller Lebensbereiche, die sich mehrenden staatlichen Eingriffe in die individuelle Existenz stehen im Gegensatz zum Freiheitsprinzip. Die zuweilen autoritär anmutende Herrschaft einer Parteiführung läßt sich mit dem Grundsatz der innerparteilichen Demokratie nicht vereinbaren. Die existentielle Not bestimmter gesellschaftlicher Gruppen widerspricht der Grundforderung der sozialen und solidarischen Demokratie.
Die Erfahrungstatbestände der Widersprüche zwischen dem Modell des demokratischen Systems und seiner Verwirklichung in den konkreten Demokratien unserer Zeit sind zahlreich, die Beispiele ließen sich vielfach vermehren. Doch auch mit diesen Widersprüchen heißt es zunächst im demokratischen Alltag auskommen, was jedoch nicht bedeutet, sich mit ihnen abfinden zu müssen. Denn sie lassen sich reduzieren, weil sie nicht grundsätzlicher Art, sondern die Folge menschlicher Unzulänglichkeit sind. Das Wissen um diese Zusammenhänge, Kritik und Selbstkritik sowie politisches Bemühen können dazu führen, daß Widersprüche solcher Art vermindert werden. Sie völlig zu beseitigen wird kaum ein demokratisches System in der Lage sein.
Fassen wir abschließend zusammen: das freiheitliche demokratische System ist der komplizierteste, anspruchsvollste, fragilste und gefährdetste politische Systemtypus, den menschlicher Geist und politisches Handeln geschaffen haben. Es ist ein System der Widersprüche und Gegensätze, das durch die Vielzahl von Spannungsverhältnissen charakterisiert ist. Damit müssen die Demokraten leben; sie müssen die Widersprüche und Spannungen, ihre Ursachen und Erscheinungsweisen kennen, sie müssen das Paradoxon, das im Bemühen um Ausgleich und Vergeblichkeit, in Überbrückung und Scheitern besteht, ertragen. Nur dann werden sie sich weder von den Schalmeien der politischen Heilsbringer noch von den Posaunen der politischen Pessimisten irritieren lassen. Denn – ich darf mit einem Ausspruch von Winston Churchill schließen:
Die Demokratie ist das schlechteste aller Systeme –
mit Ausnahme aller anderen.<<
Quelle: Heinz Laufer in Freiheit & Gleichheit oder Die Quadratur des Kreises, München 1974 – 1. Auflage, Seite 15 bis 25.
[Anmerkkung: Während meines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war Prof. Dr. Dr. jur. utr. Heinz Laufer mein Magister-Vater im Hauptfach Politikwissenschaft. Er ist leider vor Jahren verstorben.]